„Geschichte verpflichtet uns“: Gedenkstunde in Sehnde zur Reichspogromnacht

„Geschichte verpflichtet uns“: Gedenkstunde in Sehnde zur Reichspogromnacht
Bürghermeister Olaf Kruse (hi.li.) hielt die Gedenkrede zur Reichspogromnacht und zog dabei Lehren für die Gegenwart - Foto: JPH
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Die Gruppe Stolpersteine in Sehnde hatte gemeinsam mit der Stadtverwaltung aus dieses Jahr wieder zur Gedenkfeier anlässlich der Reichspogromnacht in den Ratssaal der Stadt eingeladen – einem Ereignis der deutschen Geschichte, das verharmlosend lange als „Reichskristallnacht“ im nationalsozialistischen Jargon bezeichnet wurde. Das Konzept der Gedenkveranstaltung war dieses Jahr allerdings neu Gestaltet worden, das die Besucher mit einbezog.

Mit etwa 65 Besuchern waren mehr Gäste zu der ungewöhnlichen Uhrzeit von 13 Uhr gekommen als in den Jahren zuvor. Sie wurden zunächst vom Bürgermeister Olaf Kruse begrüßt, der auch die Gedenkrede hielt – zum letzten Mal, wie er eingangs betonte.

Kruse führte aus, dass in dieser unschuldig als „Reichskristallnacht“ bezeichneten Nacht nicht nur „Fensterscheiben, sondern das, was Deutschland bis dahin an Menschlichkeit noch besaß“ zerbrach. Eigentlich leitete dieser Vorgang die heute als „Shoah“ bezeichnete Ausgrenzung und anschließende Vernichtung des jüdischen Lebens – und im Anschluss auch anderer Bevölkerungsgruppen – ein. Das kehrt nun offensichtlich nach Deutschland zurück.

Aktuelle Ereignisse starten Ausgrenzung

„Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 erleben wir, wie weltweit, auch in Deutschland, antisemitische Ressentiments wieder zunehmen. Synagogen müssen unter Polizeischutz stehen, jüdische Kinder erleben in Schulen Anfeindungen, Menschen, die Kippa oder Davidstern tragen, werden auf offener Straße beschimpft“, so fuhr Kruse mit Blick auf die zunehmende Polarisierung in der jetzigen Gesellschaft fort. „Das ist eine Schande für unser Land – und ein Alarmsignal für unsere Demokratie.“ Und er bezog diese Aussage nicht nur auf die jüdische Bevölkerungsgruppe, sondern im weitesten Sinne auf unsere Staatsform und das europäische Zusammenleben.

Beispiele gibt es gar viele, ob im täglichen Leben, den sozialen Medien und auch in den zunehmend auftauchenden rechtsgerichteten „Nachrichtenmitteln“. Nun sind wir alle gefragt, die die Demokratie in ihrer Form als Gemeinschaft schützen wollen. Er führte aus: „Politik, Medien, Schulen, Zivilgesellschaft – und jede Bürgerin, jeder Bürger. Wir müssen widersprechen, wo antisemitische, rassistische oder verschwörungsideologische Parolen laut werden. Wir müssen Haltung zeigen – auch dann, wenn es unbequem ist. Denn Demokratie lebt nicht vom Schweigen der Mehrheit, sondern vom Mut der Anständigen.“

Demokratie verteidigen

Großes Interesse fand auch die Informationssäule der KGS-Schüler – Foto: JPH

Es muss sich demzufolge eine Erinnerungskultur und -weitergabe entwickeln, denn die Zeitzeugen, die aus persönlichem Erleben berichten können, stehen kaum noch zur Verfügung. Umso wichtiger werden Einrichtungen wie die Gedenkstätte Ahlem auf dem Gelände der ehemaligen jüdischen Gartenbauschule – später ein „Durchgangslager“ für die Deportation der Juden. „Sie erinnert an Schicksale, an zerstörte Leben, an verlorene Träume. Und sie erinnert uns daran, wie schnell eine Gesellschaft, die sich selbst zivilisiert nennt, in Barbarei umschlagen kann, wenn Hass und Gleichgültigkeit die Oberhand gewinnen“, so der Bürgermeister. Das drücke sich unter anderem auch dadurch aus, dass man in vielen Bereichen heute keine Kippa mehr tragen oder sich öffentlich zu seinem Glauben bekennen könne.

Und er rief dazu auf, das Vertrauen in unseren Staat und seine Institutionen zu stärken, statt der zersetzenden Propaganda aus dem In- und Ausland auf den Leim zu gehen. Er schloss mit dem Aufruf: „Dass wir heute hier öffentlich zusammenkommen können, in Freiheit, in Frieden, ist ein Geschenk – und eine Aufgabe. Nie wieder Gleichgültigkeit! Nie wieder Hass! Nie wieder Wegsehen!“

Grußwort von Sehnder Zeitzeugen

Nach der Rede des Bürgermeisters verlas die Erste Stadträtin Anne Günther ein Grußwort der Sehnder Zeitzeugen Elfriede und Hans Brumsack, die nun in den USA leben. Sie lobten darin den Umgang der Stadt Sehnde mit den Erinnerungen an die dunkle Zeit des Nationalsozialismus‘ und bezeichneten sie als „außergewöhnlich“. Demzufolge sei es „kein Gedenktheater, sondern aktives Leben mit der Vergangenheit“ in der Stadt.

KGS Team bezieht Besucher mit ein

Das KGS Lehrer-Team aus Inga Böhm und Kolja Hoffmann luden danach zu einem Gespräch zwischen den Sitznachbarn über den Umgang mit der Geschichte in den Familien ein. Wer spricht wann und wie oft mit seinen Angehörigen über die nationalsozialistische Vergangenheit. Im Anschluss zeigten die Lehrer ein Ausstellungstück aus der Arbeit der Schüler der KGS zu ihrem Auschwitzbesuch über die Kinder in den Konzentrationslagern. Parallel schrieben die Gäste ihre Gedanken zum Erhalt der Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit auf Zettel, die die Tafel der Schüler ergänzte.

Schlusswort

Am Ende der Gedenkfeier dankte die Erste Stadträtin Anne Günther (2.v.li.) allen Unterstützern, darunter Kolja Hoffmann und Inga Böhm (v.re.) von der KGS – Foto: JPH

Die Veranstaltung beendete der ehemalige Stadtarchivar Jürgen Wattenberg mit dem bekannten Zitat von Pfarrer Martin Niemöller aus der Nazi-Zeit: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Dann waren die Gäste eingeladen, bei einem kleinen Imbiss im Foyer des Ratssaales zu diskutieren und sich die Ausstellung zur Reichsprogramnacht und dem Nationalsozialismus anzusehen. Dort bezeichneten die Besucher das neue Konzept der Feier ohne permanente Frontaldarbietungen als gelungen. Aber sie sahen auch, dass jüngere Besucher für die Veranstaltung gewonnen werden müssten.

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